SÜDDEUTSCHE ZEITUNG
2022 / 06 / 22

 
HÖHERE REICHWEITE UND NIEDRIGERE KOSTEN BEI ELEKTROAUTOS: WIE DAS MIT HILFE EINES LEISTUNGSSTÄRKEREN RADNABENANTRIEBS FUNKTIONIEREN KANN
Flach, lang, leicht: In der guten alten Verbrennerwelt könnte der fünf Meter lange Lightyear 0 als Sportwagen durchgehen. Allerdings erinnern die verkleideten Hinterräder weniger an Motorsport als an Energiespar-Rallyes. Genau wie die schwarzen Solar-Schindeln auf der Motorhaube und dem schier endlos langen Dach. Außerdem taucht die lediglich 1,44 Meter hohe Flunder mit einem CW-Wert von 0,19 extrem gut unter dem Wind weg. „Bei Lightyear versuchen wir, die Reichweite nicht durch zusätzliche Batterien zu erhöhen, sondern indem wir das Fahrzeug effizienter machen, sodass es mit einer relativ kleinen Batterie mehr Kilometer fahren kann“, erklärt Arjo van der Ham, Technik-Chef des Start-ups.

Vor sechs Jahren wurde die niederländische Firma gegründet, in diesem Spätsommer soll das erste Modell in einer Kleinserie auf den Markt kommen. Das Team von mittlerweile 450 Mitarbeitern tüftelt nicht nur an den windschlüpfrigen Formen des Lightyear 0 und der Energiegewinnung durch Solar-Panels, sondern auch an einem Direktantrieb durch Radnabenmotoren: „Es geht nur um Effizienz. Da die Motoren direkt in den Rädern untergebracht sind, werden keine Antriebswellen, kein Differential und kein Endantrieb mehr benötigt. Alle diese rotierenden mechanischen Komponenten erzeugen Reibungswiderstand und verringern damit die Gesamteffizienz und Reichweite des Fahrzeugs“, so Arjo van der Ham.

Seit Langem gelten Elektromotoren in den Rädern als besonders effizient, viel Erfolg hatten die Hersteller damit allerdings nicht. Zu schwach waren die Motörchen im Format von Trommelbremsen und zu anfällig für eindringenden Schnee, Eis und Straßenschmutz. Außerdem klang der außenliegende Antrieb nicht selten wie eine sirrende Straßenbahn – kein überzeugender Auto-Sound. Doch die Technik macht Fortschritte, der Zulieferer Schaeffler bringt das System für kleine Nutzfahrzeuge in Serie. Und diverse Start-ups wie Lightyear und Deep Drive aus München arbeiten an innovativen Pkw-Lösungen.

 
DIE ZULIEFERER TUN SICH SCHWER MIT NEUEN ANTRIEBSKONZEPTEN – ANDERS ALS DIE JUNGEN ERFINDER
„Die Hürde von Radnabenantrieben war bisher immer das Thema Performance“, sagt Stefan Ender, Geschäftsführer und Co-Gründer von Deep Drive: „Um den Direktantrieb ohne Getriebe darzustellen, braucht man eine gewisse Drehmomentdichte. Das funktionierte bisher aber nur mit teuren Spezialmaterialien.“ Deshalb scheuen führende Zulieferer wie Bosch die Entwicklung, weiß der Projektmanager. Er und Alexander Rosen, der Chefentwickler von Deep Drive, waren einige Jahre bei den Stuttgartern mit E-Antrieben beschäftigt, bevor sie sich mit Studienfreunden aus dem Motorsport-Team der TU München selbständig machten. „In den großen Konzernen kann man nicht so innovativ sein. Da bekommt man kein Budget dafür“, meint Ender. Im vergangenen Jahr haben die Deep-Drive-Gründer in wenigen Monaten einen Prototypen entwickelt, der auf der IAA in München Aufsehen erregte.

Deep Drive will mit seinem Radnabenantrieb 20 Prozent effizienter sein als herkömmliche E-Motoren. Das Fraunhofer-Institut hat mittlerweile die technische Machbarkeit bestätigt; die ersten Investoren sind auch schon an Bord, darunter der frühere Audi-Entwicklungsvorstand Peter Mertens: „Seit den 1990er-Jahren wurde weltweit mit überschaubarem Erfolg immer wieder versucht, elektrische Radnabenmotoren zu entwickeln, die dauerhaltbar, leise und drehmomentstark sind“, so Mertens: „Die Deep-Drive-Technologie ist ein Durchbruch und wird dazu führen, dass kompakte Elektrofahrzeuge mit niedrigen Kosten und fantastischen Proportionen Realität werden können.“

Weil die Motoren in die Räder integriert sind, sieht das Deep-Drive-Fahrgestell inklusive der Batteriezellen wie ein flaches Skateboard aus. Ohne die Einschränkungen einer Spritzwand zwischen Motorraum und Passagierkabine hat das Design beim Radnabenantrieb alle Freiheiten: Elektroautos müssen nicht mehr wie konventionelle Verbrenner mit langen Motorhauben aussehen. Im Prinzip sind viele E-Mobile auch heute noch so ähnlich aufgebaut: Der Verbrenner wurde lediglich durch eine oder zwei zentrale E-Maschinen in den Achsen ersetzt, ein Ein-Gang-Getriebe reduziert in der Regel die hohen Drehzahlen auf ein radverträgliches Niveau. Doch wie alle Getriebe sorgt auch diese Zahnradübersetzung für Reibungswiderstand: Im Alltag sei eine übliche E-Achse nicht besonders effizient, rechnet Deep Drive vor. Der optimale Wirkungsgrad von bis zu 96 Prozent sinke etwa durch kalte Komponenten im kühlenden Ölbad auf weit unter 90 Prozent.

 
20 PROZENT EFFIZIENZGEWINN DURCH DEN DIREKTANTRIEB? DAS WÄRE EINE REVOLUTION
„Die meisten Hersteller wollen eine große Reichweite erzielen und fügen deswegen zusätzliche Batterien hinzu. Dadurch erhöht sich jedoch das Gewicht des Fahrzeugs, was wiederum den Drehmomentbedarf des Antriebsstrangs und den Energieverbrauch erhöht“, erläutert Arjo van der Ham. Tatsächlich wiegt kaum ein neuer Stromer deutlich weniger als zwei Tonnen. Im Schnitt bringen Elektroautos laut dem Center for Automotive Research 21 Prozent mehr Gewicht auf die Straße als Benziner. Durch die Energierückgewinnung beim Verzögern können die E-Mobile ihren Gewichtsnachteil zwar weitgehend kompensieren. Billiger werden die fetten E-Brummer aber nicht, im Gegenteil: Rasant steigende Rohstoffpreise machen die 500 Kilogramm schweren Batteriepakete zu Schmuckkästchen voller teurer Metalle. Individuelle Mobilität könnte dadurch für viele Menschen absehbar unerschwinglich werden.

Dass der Lightyear lediglich 1,5 Tonnen wiegt, ist da nur folgerichtig. Wirklich verblüffend ist allerdings der vorläufige Verbrauchswert von 10,5 kWh auf 100 Kilometer bei einem Durchschnittstempo von 110 km/h auf der Autobahn. Mit einer 60-kWh-Batterie will Lightyear eine Reichweite von 625 Kilometern im Normzyklus erreichen. Mit der zusätzlich genutzten Solarenergie sollen es sogar bis zu 1000 Kilometer werden. Endgültige Verifizierungstests stehen noch aus – und man braucht ein sonniges Gemüt, um an einen zusätzlichen Radius von bis zu 70 Kilometer pro Tag durch die Solarmodule zu glauben. Zumindest in Nordeuropa. Aber mit einer Vielzahl neuer Lösungen ist das Solarauto auf dem richtigen Weg in eine ressourcenschonende Zukunft.

Joachim Becker

 
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